Das Jyrobike Kinderfahrrad – Sinn oder Unsinn?

kinderfahrrad-jyrobike-selbststabilisierendViele von Euch haben vielleicht schon etwas über das neue „Wunder-Kinderfahrrad“ Jyrobike gehört oder gelesen. Zahlreiche Pressemeldungen des gleichnamigen englisch-amerikanischen Gründerkonsortiums wurden in den vergangenen Wochen erfolgreich lanciert und in die Öffentlichkeit gegeben. Zumeist im Original-Wortlaut und nicht weiter kommentiert oder kritisch hinterfragt, waren die Reaktionen auf das neue Jyrobike dann auch entsprechend überwiegend positiv, zum Teil sogar euphorisch.

Um dieser Euphorie ein paar Grenzen aufzuzeigen, die Betrachtungen  zu versachlichen und auch, um uns für einen Blick über den Tellerrand hinaus stark zu machen, möchten wir uns nunmehr an der Diskussion um das Jyrobike, dieser hochgepriesenen Fahrrad-Neuentwicklung für Kinder beteiligen. Dabei werden wir als Redaktionsteam vom Kinderfahrradladen mit einer gehörigen Praxiserfahrung im Background, auch ganz grundsätzliche und kritische Fragen stellen.  Wir würden uns freuen, wenn wir auch Eure Eindrücke und Meinungen zu diesem so umfassenden Thema lesen könnten.

Die Idee und die Unternehmung Jyrobike

Die Idee ist schon ein wenig älter: 2011 gründete sich das damalige amerikanische Unternehmen Gyrobike, um die Technik eines sich per schnell rotierender Schwungscheibe selbst stabilisierenden (Lauf-)Rades auch für Kinderfahrräder nutzbar zu machen. Mit Hilfe dieser Technik, die ein Wegkippen und Umfallen des Kinderrades verhindern soll, soll Kindern das Erlernen des Fahrradfahren erleichtert werden. 10.000 sogenannter Gyrowheels in 12 und 16 Zoll Größe wurden bis Ende 2012 weltweit verkauft.

Ende 2013 erwarb dann Rob Bodill die Eigentums- und Namenrechte und startete Anfang 2014 mit dem  neuen Brand Jyrobike das jetzige Unternehmen. Ziel dieser neuen Firma ist es nun nicht mehr bloß der Verkauf einzelner Laufräder für Kinderräder, sondern die Herstellung und der Vertrieb von kompletten Kinderfahrrädern, den sogenannten Jyrobikes, die mit dieser Stabilisierungstechnik ausgestattet sind.

Technik und Zielsetzung beim Jyrobike

Das physikalische Gesestz, welches sich die Jyrobikes zunutze machen ist recht einfach und wir kennen es alle: Ein sich drehendes Rad erzeugt Kräfte, die dafür sorgen, dass es auf seiner Achse verbleibt. Je schneller es sich dreht, umso stärker werden diese Kräfte und umso stabiler ist die Achslage des Rades. Wer schon einmal das sich drehende Laufrad seines Fahrrades an den Enden der Achse mit linker und rechter Hand festgehalten hat und es zur Seite kippen wollte, weiß wovon hier die Rede ist …!

Andere Beispiele, die diese Kräfte veranschaulichen, sind die Rotation und die Stabilität eines Kreisels oder auch die eines Jojos. Auch der Umstand, dass das sogenannte „Freihändigfahren“ beim Fahrrad erst bei steigender Geschwindigkeit und damit erhöhter Drehzahl der Räder besser gelingen mag, findet seine Ursache in diesen Kräften der Drehimpulserhaltung.

Kinder, die nun erstmals ein Zweirad besteigen und deren Gleichgewichtssinn für das Radfahren noch nicht ausreichend trainiert ist, haben nun erfahrungsgemäß Probleme das Gleichgewicht zu halten. Insbesondere bei niedrigeren Geschwindigkeiten werden die noch nicht balanceerfahrenen Kids häufiger zur Seite kippen und aus dem Gleichgewicht geraten, weil die stabilisierenden Kräfte des Drehimpulses noch zu gering sind, um das Zweirad aufrecht zu halten.

Genau hier setzt die Technik des Jyrobikes an: Mit Hilfe einer batteriemotorbetriebenen, sich schnell drehenden Schwungscheibe (bis zu 2000 Umdrehungen pro Minute) im Inneren des Vorderrades werden diese Kräfte fremderzeugt. Damit wird schon im Stand und bei niedrigen Geschwindigkeiten Stabilität erzeugt, die das Kind vor unliebsamen Stürzen und damit einer Angst vor dem Erlernen des Radfahrens bewahren soll, so der Hersteller.

jyrobike-aufbau-vorderrad-mit-schwungscheibe

Erfolgreiches Crowdfunding für das Jyrobike

Mit einer breit angelegten Informationskampagne und vielen begleitenden Blogartikeln startete das Unternehmen im Januar 2014 sein Vorhaben (siehe unter www.jyrobike.com). Im April dieses Jahres wurde schließlich das technisch neu entwickelte vordere Laufrad der zukünftigen Jyrobikes als Prototyp präsentiert. Dieser sogenannte Jyrobike Control Hub, der die gesamte Stabilisierungstechnik in sich trägt, steht im Zentrum und bildet das Fundament der Neuentwicklung des Jyrobikes.

Noch im selben Monat April 2014 wurde das Crowdfunding auf der Plattform Kickstarter.com angekündigt, welches bereits seit dem 03. Juni und noch bis zum 03. Juli diesen Jahres läuft. Hier haben Interessierte und Unterstützer die Möglichkeit, das Projekt finanziell zu fördern und zu sichern. Die angestrebten 100.000 Britische Pfund (etwa 125.000 EUR) wurden bereits nach einer Woche erreicht, aktuell und 3 Tage vor Ablauf der Förderphase steht die Finanzierungssumme bei 165.000 Pfund (gut 2000.000 EUR).
Unterstützer haben die Möglichkeit, sich mit Bürgschaften in Höhen zwischen $ 13 und $ 5000 zu beteiligen. Entsprechend sichern Sie sich damit das Anrecht auf die zu produzierenden Jyrobikes bzw. deren Komponenten, z.B. auf ein komplettes 16 Zoll Kinderfahrrad ($ 299) oder auch nur auf ein einzelnes Vorderlaufrad, z.B. 12 Zoll ($ 129). Weitere Informationen zu diesem Projekt findet Ihr direkt bei kickstarter.com

Auslieferung der ersten Jyrobikes ab Anfang 2015 geplant!

Bereits im Januar 2015 soll es nach Unternehmensangaben dann soweit sein: Die Auslieferung der ersten (vorbestellten) 12- bzw. 16 Zoll Kinderfahrräder bzw. der einzelnen Laufräder (Control Hubs) kann erfolgen.
Ob es in der Zukunft auch eine Ausweitung dieser Technik auf den 20 Zoll Bereich und entsprechende Kinderfahrräder geben wird, ist noch unklar. Das Unternehmen hatte hierfür eine Fördersumme von $ 500.000 ausgegeben, von deren Erreichen es aber weit entfernt liegt. Entsprechend wird sich voraussichtlich erst 2015 zeigen, welchen Verlauf die Kunden- und Verkaufszahlen nehmen, ob diese Unternehmung weiter expandiert.

Wird das Jyrobike auch zur Erfolgsgeschichte für unsere Kinder?

Ohne Zweifel ist das Jyrobike eine clevere Idee. Und auch die technische Umsetzung scheint gut geplant zu sein und wird sein Ziel sicher erreichen, davon können wir heute ausgehen.

Aber ist die gute Funktionalität eines Produktes gleichzusetzen mit seinem tatsächlichen, nachhaltigen und langfristigen Nutzen? Bestimmt nicht, da sind wir uns sicher. Und so müssen wir auch hier der Frage nachgehen, inwieweit ein ganz offensichtlicher positiver, aber kurzfristiger Nutzen, nicht einem viel größerem Ziel entgehensteht: Dem Wunsch, unsere Kinder auf dem Weg zu eigenständigen, selbstbewußten und unabhängigen Individuen bestmöglich zu begleiten.

Das Jyrobike kann kein Begleiter auf diesem Weg sein. Denn so  rührend und sorgenvoll das Verkaufskonzept auch auf den Stürzen der lernenden Kinder und den mitleidenden Gefühlen der Eltern aufbaut und es zu verhindern sucht, so kontraproduktiv ist es auf der anderen Seite.  Es geht nicht darum, etwas hinzu zuschalten und zu verhindern. Es geht für uns Eltern darum, etwas zuzulassen und für die Kinder darum, ihren eigenen Sinnen zu trauen.

Mit Bewegung fängt so vieles an.

Es ist doch unbestritten: Bewegungserfahrungen zählen bei Kindern zu den wichtigsten Voraussetzungen für eine gesunde körperliche und auch geistige Entwicklung. Es ist wichtig, den Kindern dafür so viel Bewegungs- und Spielraum zu schenken, wie es eben geht. In einer immer bewegungsärmer werden Lebenswelt von hochstandardisierten Spielräumen, von Displays und Sprachbefehlen bleibt die eigene Kreativität und die eigene körpernahe Sinneserfahrung häufig auf der Strecke. Es ist wichtig für die Kinder sich und ihre Sinne zu erproben und sich auf sie verlassen zu lernen. Und es geht eben nicht darum, durch eine vermeintliche Gefahrenabwehr den Kindern diese Erfahrung vorzuenthalten, so gut die Absicht auch sein mag (Lest gerne auch weiter in unserem Bewegungsratgeber …)

Sind Jyrobikes besser als Stützräder?

Ja und Nein. Sicherlich wird durch die Verwendung eines Gyroskops im Vorderrad des Fahrrades, nicht gleich das ganze Gleichgewichtsverhalten auf den Kopf gestellt, wie dies bei Stützrädern der Fall ist, die einem bei Kurvenfahrten das komplette Gegenteil vorgaukeln (siehe auch statisches Gleichgewicht). In diesem Sinne sind die Jyrobikes sehr viel sanfter und auch näher an dem Ziel ein dynamisches Gleichgewicht zu erreichen.

Dennoch stellt sich die Frage: Braucht es ein Jyrobike, um das Fahrradfahren zu erlernen? Und hier kann für uns die Antwort für normal entwickelte Kinder nur lauten: Nein, natürlicherweiser nicht. Aus unserer Sicht ist es besser darauf zu verzichten, damit das Kind seine eigenen Fähigkeiten und Grenzen unverfälscht erfährt und es auch lernt, sich genau auf diese eigenen Erfahrungen zu verlassen.

Die Diskussion um das Jyrobike fängt erst an …

Wir könnten jetzt noch absatzweise weiterschreiben, so komplex ist das Thema der kindlichen Bewegungsentwicklung. Aber vielleicht halten wir erst einmal inne und warten Eure Reaktionen auf das neue Jyrobike ab, welches vielleicht schon im nächsten Frühjahr auch durch unsere (Spiel-)Straßen flitzen wird.
Was haltet ihr von dieser Neuentwicklung? Würdet Ihr das Jyrobike gerne mal ausprobieren oder zieht Ihr gar einen Kauf in Betracht?

Nicht selten kommen wir durch unsere Berichterstattung in Kontakt mit den Herstellern und Verantwortlichen. Gerne und trotz der großen Vorbehalte auf unserer Seite, wäre ein redaktionseigener Praxis und Live-Test des Jyrobikes natürlich sehr aufschlussreich und wir könnten aus erster Hand berichten. Mal schauen, wie sich die Dinge entwickeln …

Liebe Grüße
Euer Team vom kinderfahrrad_blog

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2 Gedanken zu „Das Jyrobike Kinderfahrrad – Sinn oder Unsinn?“

  1. Die Idee ist aus prinzipiellen Gründen falsch:
    die Gleichgewichtslage beim Zweirad beruht auf Zentripitalkräften, die durch Lenkeinschläge ausgelöst werden. Kreiselkräfte sind nicht zwingend notwendig, und bei den winzigen Rädern von Tretrollern, Laufrädern oder Spielrädern auch kaum vorhanden.
    Das Erlernen des Gleichgewichts erfolgt sprunghaft: das Kind begreift, das der Lenker in der Richtung bewegt werden muss, in dem das Gefährt kippt. Wenn es den „Trick“ raushat, erfolgt das Erlernen der Feinheiten von alleine. Eine wichtige Bedeutung haben Kreiselkräfte erst bei größeren Rädern (und Geschwindigkeiten) : die neuen physikalischen Effekte überlagern den prinzipiellen Vorgang der Gleichgewichtserhaltung. Das Kind lernt sie im Fahrvorgang zu integrieren. Der sukzessiv aufbauende Lernprozess ist sehr sinnvoll. Die Kreiselpräzission bewirkt ab einer bestimmten Geschwindigkeit selbsttätig die notwendigen Lenkbewegungen – vergleichbar einer zweiten Person, die nebenher läuft und ständig im Gleichgewichtsprozeß „hilfreich“ eingreift.
    Der geübte Radfahrer hat gelernt, Kreiselkräfte komfortabel zu nutzen – für den ersten Lernprozess selbst sind sie eher hinderlich .

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